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Tabea Steiner: Balg (2019)

Worum geht’s?

Das Buch beginnt mit einer Idylle: Antonia und Chris erwarten ein Kind, ziehen aufs Land, weil das gemäss Chris besser für das Kind ist. Ausserdem ist es praktisch, dort lebt Antonias Mutter Lydia, die beim Kinderhüten helfen kann. Doch wie es so ist in guten Büchern: Idyllen halten selten lange an. Timon ist ein schwieriges Kind, Chris kommt mit dem Landleben nicht zurecht, er hat zu wenig Aufträge, während Antonia schnell eine Arbeit findet. Das Familienleben zerbricht, Chris zieht zurück in die Stadt.

 

Timon hat keine Freunde, er beisst und schlägt schon in der Kita, später stiehlt er und beginnt mit 11 zu rauchen. Er tötet Tiere, einmal unabsichtlich und selbst erstaunt, einmal voller Genuss. Die Mutter ist überfordert. Markus, ihr neuer Freund, will nur zu ihr ziehen, wenn Timon nicht zu Hause wohnen bleibt.

 

Nur mit Valentin, dem Postboten des Dorfes, geht Timon eine eigenwillige Beziehung ein. Dort kann er kommen und gehen, wie er will, er wird nicht ausgefragt, nicht zur Rechenschaft gezogen. Und als er von zu Hause abhaut, aus lauter Wut und Frustration, weil seine Mutter – um für sich einen Mantel zu kaufen – das Fahrrad verkauft hat, das er endlich von seinem Vater geschenkt bekommen hat, wird Valentin zum heimlichen Zufluchtsort, wo er warmes Essen bekommt und auch mal duschen kann.

 

Auch Valentin hat ein Geheimnis. Er war früher Lehrer im Dorf, Antonia war seine Schülerin und mit seiner einzigen Tochter Tanja befreundet. Dann geschah etwas, was nie erklärt wird, man erfährt nur, dass Valentin aus Angst, einen Kollegen anzuzeigen, seine Tochter verraten haben soll. Damals fiel seine Familie auseinander, seine Frau zog mit Tanja in die Stadt. Und Antonia scheint dabei eine tragende Rolle gespielt zu haben. Auf jeden Fall hat sie auch jetzt noch keinen guten Gedanken übrig für den alten Mann.

 

Antonia selber, so erfährt man in Andeutungen, war auch kein einfaches Kind. Nach diesem «Vorfall» kam sie aufs Internat, das einzige, was sie unbedingt wollte und auch erreichte: endlich aus diesem Dorf herauszukommen. Und jetzt sitzt sie wieder dort fest.

 

Wird es Timon gelingen, trotz aller Widrigkeiten ein gutes Leben zu führen? Der Schluss lässt hoffen.

 

Meine Lieblingsstelle

Timon wird – quasi als Time-Out – aus der Schule genommen und auf einen Bauernhof gebracht. Dort scheint es, als würde doch noch alles gut werden. Bis ihn Antonia vorzeitig und gegen seinen Willen wieder abholt.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Im Zentrum des Buches stehen Timon und Antonia. Doch auch Lydia und Valentin erhalten eine Stimme, werden aus dem Text heraus lebendig. Die Figuren sind liebevoll beschrieben, aus verschiedenen Perspektiven, voller Verständnis für das destruktive Verhalten Timons und das lieblose Verhalten Antonias.

 

Wenn mir jemand nur die Fakten dieser Geschichte erzählen würde, würde mich der Plot wahrscheinlich nicht faszinieren, da ich die Handlungen der Figuren nicht nachvollziehen kann. Was für eine Mutter sucht nicht nach ihrem vermissten Sohn? Was für ein Sohn findet seine Mutter eine *** (zensuriert)?

 

Tabea Steiner schafft mit ihrem zurückhaltenden Stil und ihrem Respekt vor den Protagonisten viel Verständnis für Timon und Antonia. Sie schildert zum Beispiel die Schäfchen im Kindergarten so plastisch, dass man es Timon wirklich nicht übel nehmen kann, dass er alle Kissen zerschnitten und den Inhalt als seine Schafherde angeordnet hat. Auch das Zweifeln und Zögern von Antonia, ihre Erkenntnis, dass sie Timons Fahrrad nicht hätte verkaufen dürfen, ihr Unglaube, dass sie «so eine Mutter» ist, das Erstaunen Timons, dass er jetzt grad jemanden geschlagen hat, sind so glaubwürdig geschildert, dass ich mit den Protagonisten mitgelitten und mitgestaunt habe.

 

Wem ich das Buch empfehlen würde

Allen, die Bücher lieben, in denen nicht alles ausgedeutet wird, bei denen genügend Leerstellen bleiben, damit sich die Leserinnen und Leser ihr eigenes Bild machen, ihr eigenes Buch mitschreiben können.

Allen, die erleben möchten, wie sie dazu verführt werden, mit einer Figur mitzufühlen, obwohl sie ihr Verhalten absolut unmöglich finden.

 

O-Ton aus dem Buch

Antonia knallt die Post auf den Tisch. Woher weiss der Alte, wo Timon ist, haben die das etwa mit ihm ausgemacht? Die stecken wieder alle unter einer Decke, und überhaupt, warum glaubt Mutter, sie könne einfach mit anderen zusammen darüber beraten, ob Timon eine Luftveränderung braucht. Hier soll sich gefälligst nie mehr einer in ihr Leben einmischen, schon gar nicht dieser verdammte Alte, der nicht einmal den Mut hatte, seinen Lehrerkollegen anzuzeigen, obwohl es um seine eigene Tochter ging. Das war schon immer so, hier, in diesem Scheissdorf, dass alle dreinreden, und wenn es wichtig wäre, schauen sie nur zu und keiner sagt was.

 

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