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Monika Helfer: Die Bagage (2020)

Worum geht’s?

Um Familie, Herkunft, Krieg und Schönheit, um Eifersucht, Missgunst, Triebhaftigkeit und männliches Potenzgehabe, um Engstirnigkeit, Ressentiment und Schlitzohrigkeit. Der autofiktionale Roman reicht über drei Generationen hinweg vom ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart.

 

Maria und Josef Moosbrugger leben mit ihren vier Kindern am hinteren Ende eines österreichischen Bergdorfs, oben am Hang. Für die Einheimischen sind sie «die Bagage», eine ärmliche, randständige Familie, mit der niemand etwas zu tun haben möchte. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Grossmutter der Erzählerin, Maria, eine sehr schöne Frau, die von vielen Männern des Dorfes begehrt wird. Als ihr Mann in den ersten Weltkrieg ziehen muss, bittet er den Bürgermeister, auf seine Frau aufzupassen. Dummerweise ist der Bürgermeister aber selber einer von denen, die finden, eine so schöne Frau sollte doch nicht nur einem einzigen Mann gehören. Maria kann mehrere Avancen des Bürgermeisters abwehren. Doch dann gibt es da auch noch Georg aus Hannover, den Maria nicht abwehrt. Josef kommt zweimal auf Urlaub nach Hause. Als er nach dem Krieg Marias jüngste Tochter Grete (die Mutter der Erzählerin) sieht, ist er überzeugt, dass das Kind nicht von ihm ist. Joseph ist freundlich zu seinen anderen Kindern, ignoriert aber die kleine Grete und spricht sein Leben lang kein Wort mit ihr.

 

Die Eltern sterben beide früh, die inzwischen sieben Kinder im Alter zwischen neunzehn und zwei bleiben auf sich allein gestellt. Erst dann werden sie richtig zur «Bagage».

 

Meine Lieblingsstelle

Lorenz, Marias kluger Sohn, findet eine Lösung, als eines Winters kein Essen mehr im Haus und der Vater immer noch im Krieg ist. Unter einem Vorwand klingelt er bei einem Klassenkameraden, nur um später unverdächtig und ungesehen zum Haus zurückzukehren und in mehreren Diebesgängen durch unglaubliche Schneetunnel die gesamte Speisekammer der Bewohner auszuräumen.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Die Art, wie es geschrieben ist. Die Erzählerin erzählt, wie wenn sie die Geschichte selber erlebt hätte. Gleichzeitig relativiert sie ständig und betont, sie stelle sich einfach vor, dass es wohl so gewesen sei. Oder sie lässt die hochbetagte Tante Kathe erzählen, die zwar auch nicht dabei war (z.B. beim Gespräch zwischen dem Bürgermeister und Joseph, als dieser aus dem Krieg kam und den Bürgermeister wegen Marias jüngstem Kind zur Rede stellte), die aber erzählt, wie sie sich das Gespräch vorstellen würde, und die Erzählerin erzählt dann, wie Tante Kathe erzählt hat.

 

In einer schlichten, knappen Sprache werden die Figuren mit wenigen Worten charakterisiert. Die gesamte Geschichte ist nur 160 Seiten lang, man fühlt sich den Personen aber sehr schnell sehr nah. Es gibt viele Leerstellen im Buch, die glücklicherweise nicht aufgelöst werden. So wissen wir bis zum Schluss nicht, wer der Vater von Grete ist.

 

Die Erzählweise kann irritieren, die grossen Zeitsprüngen machen es nicht immer einfach, den Überblick zu behalten, in welchem Zeitstrang man sich gerade befindet. Doch die Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit fasziniert.

 

Wem ich das Buch empfehlen würde

Leser*innen, die gern Familienromane lesen. Leser*innen, die dünne gehaltvolle Bücher mögen.

 

O-Ton aus dem Buch

In unserer Familie galt ich als schön. Das Wort ist zwar nicht verwendet worden, aber aus den Umschreibungen durfte ich darauf schliessen. Die Umschreibungen waren übrigens alle negativ. «Du meinst, du kannst dir alles erlauben nur wegen deinem Gesicht!» Oder: «Binde die Haare zusammen, bei dir braucht’s nicht auch noch eine Frisur!» Oder eben: Pass auf, dass du nicht wirst wie deine Grossmutter!» Inzwischen glaube ich, meine Mutter hat das nicht als eine Drohung gemeint. Sie hat gemeint, ich soll Obacht geben, für ein hübsches Gesicht besteht Gefahr. Wenn sie so dachte, dann wusste sie, warum. Im hintersten Tal war es nicht günstig für eine Frau, schön zu sein. Das meinte sie. Über die Schönheit meiner Grossmutter wurde hinten im Tal noch bis über ihren Tod hinaus gesprochen.

 

 

 

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