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Elke Heidenreich: Männer in Kamelhaarmänteln (2020)

Worum geht’s?

Elke Heidenreich erzählt von Kleidern und vom Leben, sie verwandelt Textilien in Texte, aus allem macht sie kleine autobiographische Erzählungen.

 

Meine Lieblingsstelle

Der Text «Modern Times». Zwei, die sich übers Netz kennen gelernt haben und sich sympathisch finden, machen ein erstes Treffen ab. Sie macht sich extra für ihn schön: enges kurzes Etuikleid und High Heels, lackierte Nägel und blondierte und ondulierte Frisur statt Jeans, Strickjacke und flache Schuhe. Er hingegen will nicht in einem seiner unzähligen Anzüge auftauchen und entscheidet sich für lässige Jeans, T-Shirt und Sneakers, dazu eine Strickjacke über die Schulter.

 

Im verabredeten Restaurant erschrickt sie über den lässig-lockeren Kerl am Ecktisch, er beachtet die aufgetakelte Tante kaum. Sie erkennen einander, geben sich aber nicht zu erkennen und schreiben sich nie wieder. «Beide wussten jahrelang: Das wär’s gewesen, ich hab es versemmelt. Modern Times.»

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Das Buch ist voller Erinnerungen der Autorin, ist gleichzeitig aber völlig aktuell. Zu verschiedensten Kleidungsstücken, gekauft aus einer Laune heraus oder lang ersehnt, erzählt Heidenreich eine autobiographische Geschichte, die gleichzeitig universal ist. Begegnungen und Schicksale sind in den Kleidungsstücken eingewebt. Zwischen den Zeilen hat das Buch auch eine klimapolitische und wegwerfkritische Aussage: Es muss nicht immer Neues sein! Und ich staune über die Auffassungsgabe resp. die Achtsamkeit der Autorin: Was diese Frau alles sieht! Und wie schön, dass sie im Alter diese gelassene Heiterkeit gefunden hat.

 

Wem ich das Buch empfehlen würde

Wer unterhaltsam erzählte Anekdoten mag und sich dazu noch für Kleider interessiert, wird dieses Buch lieben.

 

Originalton aus dem Buch

Stiefel machen einen anderen Gang. Männer in Stiefeln machen Angst, Frauen in Stiefeln wirken energisch, ausser die Stiefel haben absurd hohe und schmale Absätze, dann ist alles sinnlos, und Overknees sind nur etwas für – naja. Muss nicht sein.

 […]

Mit der ersten zaghaften Emanzipationswelle in den 1960er Jahren kam auch Frida Kahlo nach Deutschland beziehungsweise ihre Bilder. Ich sah sie eher zufällig in einer kleinen Galerie irgendwo in Berlin, wo ich damals studierte. Noch nie hatte ich solche Bilder gesehen, so voller Sinnlichkeit und Schmerz, so farbenfroh und so ernst, von so viel Blut und Kummer erzählend mit derart leuchtenden karibischen Farben. Bald kannte ich auch Frida Kahlos Geschichte, ihren Unfall, die lebenslangen Schmerzen, die Liebe zum treulosen Maler und Ehemann Diego Rivera, die Affäre mit Trotzki, aber vor allem waren da ihre Bilder und: ihre Kleider. Eine Frida Kahlo in Jeans und T-Shirt – undenkbar. Sie war die Königin der ganz grossen, dramatischen Roben.

 

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