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Shida Bazyar: Drei Kameradinnen (2021)

Worum geht’s?

Von Anfang an ist klar, dass etwas Schlimmes geschehen wird. Kasih, die Protagonistin, schreibt diesen Text in einer einzigen langen Nacht, in der sie darauf wartet, dass ihre Freundin Saya aus dem «Knast» entlassen wird. Aus einem Zeitungsartikel am Anfang des Buches erfahren wir, dass Saya unterstellt wird, ein islamistisch motiviertes Attentat verübt zu haben. Doch können wir der Erzählerin trauen? In ihrer Aufzeichnung verwischt Kasih Erfindung, Wirklichkeit und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, der «Insel meiner Diplomarbeit, die Insel meiner, ungelogen, 83 Bewerbungen, die Insel meiner Hartz-IV-Bescheide». Heraus kommt ein zorniger, provokativer Text, der uns in die Lebens- und Gedankenwelt von drei Freundinnen abtauchen lässt, die aufgrund ihrer Herkunft immer und überall infrage gestellt werden.

 

Seit ihrer gemeinsamen Jugend in einer Wohnblock-Siedlung am Rand einer deutschen Kleinstadt verbindet Hani, Kasih und Saya eine tiefe Freundschaft. Saya lebt inzwischen in einer fernen Metropole, doch anlässlich der Hochzeit der gemeinsamen Freundin Shaghayegh, die in der gleichen Siedlung aufgewachsen ist, wohnt sie vorübergehend bei Kasih. Von Kasih erfahren wir auch, was in diesen paar Tagen passiert. Es sind die Tage, an dem der NSU-Prozess beginnt, auch wenn das im Buch nie ausdrücklich genannt wird. Das gehört zum Konzept. Es könnte auch zu einem anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort stattfinden. Uns Leser:innen wird bald klar, was den Alltag der drei jungen Frauen heute bestimmt: Blicke, Sprüche, Hass und rechter Terror.

 

Gerade für dieses Buch ist es schwierig, den Inhalt irgendwie sinnvoll zusammenzufassen. Viel aussagekräftiger sind die Originalton-Zitate am Ende dieses Textes, deshalb fallen sie hier auch etwas umfangreicher aus.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Bazyar setzt brisante aktuelle Themen literarisch raffiniert um. Mit Kasih hat der Roman eine sehr präsente Erzählstimme. Sie spricht uns Leser:innen direkt an, unterstellt uns Dinge, ist mit uns ungerecht, arrogant. Das provoziert mich als Leserin, ich fühle mich unter Anklage gestellt, gleichzeitig lässt es mich aber auch immer wieder meine eigenen Annahmen hinterfragen. Die Erzählerin unterwandert sehr gekonnt unser gutes weisses Gewissen. Sie polarisiert, schreibt von «wir» und «ihr», nur um im nächsten Satz zu relativieren: «wir sind eben doch wie ihr». Alles wird gespiegelt, immer wieder die Perspektive gewechselt, man fühlt sich bei den eigenen Vorurteilen ertappt.

 

Die Erzählerin unterstellt uns zum Beispiel, dass wir jetzt sicher wissen möchten, wo die drei Frauen herkommen, damit wir sie in eine bestimmte Schublade stecken können. Und ich merke: Ja, ich möchte es gern wissen. Doch warum denn eigentlich? Zum Glück verrät sie es uns nicht, auch das gehört zum Konzept des Buches. Trotz dem gemeinsamen Migrationshintergrund handelt es sich um drei sehr unterschiedliche Frauen. Saya ist radikal, Hani ist ruhig und zurückhaltend, Kasih ist irgendwo in der Mitte. Und alle – wir und sie – verstricken sich immer wieder in starren Denkmustern.

 

Die Erzählerin generalisiert uns Leser:innen und klagt uns an, das ist uns unangenehm. Doch genau so generalisieren wir teilweise die Migrantinnen. Das Buch regt auf und hinterlässt eine Langzeitwirkung.

 

Das Schöne ist aber, dass dem Buch Solidarität und Freundschaft zugrunde liegen. Die drei jungen Frauen halten zusammen, geben aufeinander acht, widersprechen und regulieren sich gegenseitig. Und das ist es, was zählt.

 

Wem ich das Buch empfehlen würde

Leser:innen, die sich von einem Buch auch gern mal provozieren lassen.

 

Originalton aus dem Buch

Ich höre jetzt auf, weiterzuschreiben. Das hat keinen Zweck, denn ich versuche mir permanent vorzustellen, wer ihr seid, während ihr euch vorzustellen versucht, wer wir sind. Wir sind nicht so anders als ihr. Das denkt ihr nur, weil ihr uns nicht kennt. Weil ihre keine Kindheit hattet, die so roch wie unsere, und weil ihr keine Freundinnen habt, mit denen ihr diese stinkende Kindheit hättet teilen können. Ihr habt auf jeden Fall gerade verschiedene Gedanken. Ihr findet Hani jetzt schon unsympathisch und ihr stellt euch Saya jetzt schon hübsch vor. Ihr wartet auf den Moment, in dem ich erkläre, wer von uns aus welchem Land kommt. Das nämlich müsst ihr wissen, bevor ihr euch in uns eindenken könnt. Das ist für euch eine ungefähr so wichtige Information wie die, am Rand welcher deutschen Kleinstadt wir aufgewachsen und wie alt wir sind und wer von uns die Heisseste ist. Ich sage euch dazu nichts. Da müsst ihr durch. Ich weiss ja auch über euch nichts.

[…]

Saya hat kein Trauma. Wir haben alle keins. Also, wahrscheinlich haben wir alle eins, ein Trauma, das Leute wie wir halt so haben. Weinende Eltern, schreiende Eltern, eine Jugend, in der man sich selbst erklärt, was an einem anders ist, Lehrer, die dich wie Dreck und deine Eltern wie noch grösseren Dreck behandeln, kein Geld, keine Müllabfuhr, zu viele Krankenwagen und zu wenig Bücher. Wir haben eine Menge kleiner Traumata, aber wir funktionieren nicht so, wie man sich das vorstellt, nachdem man voller Empathie Reportagen geguckt und ausschliesslich mit seinen ältesten Freunden darüber spekuliert hat, wie die armen Flüchtlinge über das Mittelmeer kamen und deswegen nichts anderes zu tun haben, als immerzu vom Mittelmeer zu träumen. Schon klar, ihr seid nicht so, ihr stellt euch das gar nicht vor, denn ihr habt ja eine Weile geholfen, Kleider zu sortieren und Kuscheltiere zu verteilen, solche Vorurteile habt ihr nicht mehr. Ihr wart nämlich bei euren Hilfsaktionen zu allen nett, auch zu den Leuten, vor denen ihr euch ein wenig gefürchtet habt, ihr wart ganz tapfer liebevoll, auch dann noch, als ihr euch gefragt habt, ob Terroristen unter euren Schutzbefohlenen sind, dann wart ihr zwar immer noch liebevoll, aber eben auch Rassisten, liebevolle Rassisten. Ihr habt bei all eurer Hilfe gesehen, dass diese Flüchtlinge immer für eine Überraschung gut sind, es lässt sich eben niemand in eine Schublade stecken, und es gibt solche und solche und bei jedem künftigen Abendessen mit Freunden könnt ihr jetzt von euren Erkenntnissen erzählen. Eure Vorurteile habt ihr also abgelegt, aber, und damit kann ich auch die Geschichte rund um flirty Mitbewohner Felix geschickt abrunden, wenn es hart auf hart kommt, wissen Leute wie ihr, also alle Leute, plötzlich doch ganz genau, wie es um die psychischen Zustände der Flüchtlinge, also aller Flüchtlinge, steht.

 

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