· 

Jennifer Egan: Candy Haus (S. Fischer, 2022) / The Candy House (2022)

Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens

 

Wer ist Jennifer Egan? Auszug aus Wikipedia: Für A Visit from the Goon Squad wurde sie 2011 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. 2015 wurde dieser Roman von der BBC-Auswahl der besten zwanzig Romane von 2000 bis 2014 zu einem der bislang bedeutendsten Werke dieses Jahrhunderts gewählt. Seit 2018 ist sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes PEN America.»

 

Man muss A Visit From the Goon Squad (dt: Der grössere Teil der Welt) nicht gelesen haben, um Candy Haus zu verstehen. Aber es kann erhellen, tauchen doch teilweise dieselben Personen wieder auf.

 

Worum geht’s?

Der Roman spielt in den USA der nahen Zukunft und besteht aus einem Netz aus Lebensläufen, kaleidoskopartig angelegt, aus verschiedenen Perspektiven erzählt, mit Rückblicken bis in die 1960er Jahre.

 

Bix Bouton, der Gründer eines Start-ups, hat eine App entwickelt, mit der man sein Unterbewusstsein in eine Art Cloud hochladen kann. Wer sich darauf einlässt, erhält Zugriff auf die Erinnerungen anderer Menschen, eine Art kollektives Archiv. Die App war ursprünglich für praktische Zwecke gedacht wie das Aufklären von Kriminalfällen und Hilfe für Demenzerkrankte, wurde dann aber zum Trend, um zum Beispiel Konzerte nachzuhören, Erinnerungen der Eltern anzuschauen oder ein Familienfest aus längst vergangener Zeit aus verschiedenen Perspektiven noch einmal zu erleben.

 

Den Grundstein für diese App hat die Anthropologin Miranda Kline gelegt. In ihrem Buch ‚Muster des Vertrauten‘ beschreibt sie Algorithmen, die es möglich machen, den gesamten Inhalt eines Gedächtnisses in einen externen Speicher herunterzuladen. Bix Bouton setzt dies in die Praxis um und wird dadurch reich und bekannt, während Miranda Kline von der (digitalen) Bildfläche verschwindet und nicht mehr auffindbar ist. Die Grundidee von Bix Bouton ist eigentlich gut nachvollziehbar: Je mehr wir voneinander wissen, desto besser verstehen wir einander. Bix wollte den Hass auf Schwarze reduzieren, den er selber am eigenen Leib zu genüge erlebt hat.

 

Der Trend, Erinnerungen auszulagern, wird dann weiterentwickelt: Bald gibt es elektronische Asseln, die im Kopf implantiert werden und damit Zuschauern erlauben, live bei den Erfahrungen von jemand anderem mit dabei zu sein. Körper werden elektronisch aufgerüstet mit implantierten Mikrofonen im Ohr und Notfallschalter im Knie.

 

Ein Kapitel erzählt von der Mission der Spionin Lulu im Jahr 2032. Ihr Körper ist mit allerlei Gadgets aufgerüstet, damit sie ihre politischen Ziele – die nicht ganz klar werden – als unerkannte Geliebte erfüllen kann. So kann sie ohne jegliche Hilfsmittel Gespräche ihrer Zielperson aufnehmen und, wenn nötig, ein Hilfesignal abschicken, um aus der Situation herausgeholt zu werden.

 

Es gibt eine Vielzahl von Personen und Erzählsträngen in dem 400 Seiten starken Buch, das in chronologisch nicht geordnete Kapitel unterteilt ist. Die Erzählperspektive wechselt ständig, oft merken wir erst im Lauf des Kapitels, wer jetzt gerade «ich» ist. Die Form des Buches widerspiegelt unseren Alltag, in dem unsere Aufmerksamkeitsspanne durch die digitalen Tools in kleinste Häppchen gestückelt wird. Die Geschichte springt von Protagonist:in zu Protagonist:in, und am Ende haben alle irgendwie etwas miteinander zu tun. Ich musste zeitweise aufpassen, dass ich den Faden nicht verlor, merkte allerdings bald, dass die einzelnen Personen gar nicht so wichtig sind, sondern dass es darum geht, ein Gefühl für diese Zukunftsvision zu entwickeln.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Ich habe das Gefühl, dass keine von Egans Figuren selber an die Utopie glaubt, die dieses kollektive Archiv sein könnte. Es gibt nun mal keinen objektiven Blick auf die Wahrheit. Viel eher werden alle enttäuscht. Ein Mädchen findet ihr eigenes Bild in den Erinnerungen des Vaters, unterlegt mit geringschätzigen Gedanken. Sie schaltet sofort ab.

 

Das Buch ist durch die Zeitsprünge und die Vielzahl von Protagonist:innen ein Abbild der sozialen Medien, von daher passen meiner Meinung nach Form und Inhalt sehr gut zusammen. Das Evozierende am Buch verdeutlicht den Gedanken, dass es gar nicht möglich ist, das kollektive Unterbewusstsein ganzheitlich darzustellen.

Litum – Literatur und Sprache

Kontakt

Im Moos 4

5210 Windisch

Schweiz

 

E-Mail