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Chimamanda Ngozi Adichie: Dream Count (S. Fischer, 2025)

Aus dem Englischen von Asal Dardan und Jan Schönherr

 

Worum geht’s?

Chiamaka, genannt Chia, ist Reiseschriftstellerin und pendelt zwischen Nigeria und den USA. Zu ihren beiden Freundinnen, der Bankerin Omelogor in Nigeria und der in den USA lebenden Anwältin Zikora, hält sie rege Kontakt. Die vierte Protagonistin ist Chias Hausangestellte Kadiatou. Alle vier erzählen abwechselnd ihre Geschichte, in der jeweils auch die anderen eine Rolle spielen. Alle vier leben in mehreren Kulturen, sind – zumindest nach aussen hin – selbstbestimmt und wollen sich von den Erwartungen der Tradition befreien. Dabei steht vor allem ein Wunsch im Zentrum, der auch gleich der erste Satz des Romans ist: «Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt.»

 

Chias Familie ist sehr reich, sie kann sich als Reiseschriftstellerin verwirklichen, bislang ohne grossen Erfolg. Zikora macht Karriere als Anwältin in Washington. Jahrelang hat sie sich ein Kind gewünscht, als sie aber dann schwanger wird, macht sich der überforderte Partner aus dem Staub. Die Bankerin Omelogor ist in Nigeria geblieben. Sie hat keine Skrupel, mit illegalen Finanzgeschäften Geld zu waschen. Gleichzeitig unterstützt sie finanziell Frauen, die selbständig eigene Projekte entwickeln möchten. Berührend ist die Geschichte von Kadiatou, die nicht nur in Chias Haushalt, sondern auch noch als Zimmermädchen in einem Luxushotel arbeitet. Ihre Geschichte ist – wie dem Epilog zu entnehmen ist – von Nafissatou Diallo inspiriert, die Dominique Strauss-Kahn einen sexuellen Übergriff vorwarf. Ohne ihr Zutun gerät Kadiatou in einen gigantischen Wirbelsturm der Boulevardpresse, und ihre Aussagen werden infrage gestellt.

 

Die Rede ist auch von wechselnden Partnern, die entweder sehr selbstbezogen oder aber zu nett und naiv sind. Männer werden im Roman insgesamt eher unzureichend dargestellt. Themen wie Verlassenwerden und Mutter-Tochter-Beziehungen spielen in den vielfältigen Handlungssträngen eine grosse Rolle, doch alles überwiegt die Sehnsucht nach Selbstbestimmung.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

 Die Autorin schreibt unterhaltsam und zugänglich, die Themen – Liebesbeziehungen, Fehlgeburten, Abtreibungen, häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung – sind teilweise heftig, ohne sich in Anklagen zu verlieren. Ganz nebenbei vermittelt der Roman Einblicke in afrikanische Lebenswelten – ohne lange Erklärungen, aber mit selbstverständlicher Präzision. Ich hatte keine Ahnung, was Fonio ist und musste die in Westafrika beliebte Hirseart nachschlagen. Solch beiläufig eingeworfene Begriffe tragen zum Gefühl bei, in fremde Welten einzutauchen.

 

Die vielen Affären der Protagonistinnen erinnern etwas an «Sex and the City». Der Roman wird auch als feministisch gelobt, was sicher richtig ist, wenn man die Eigenständigkeit der drei erfolgreichen Frauen anschaut, meiner Meinung nach jedoch gerade dort nicht stimmt, wo sich die Frauen stark auf Männer fokussieren und ihnen alles recht machen möchten.

 

Schön finde ich den Gedanken, dass Chias Wunsch, «von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt», mit diesem Roman Realität wird: die solidarische Beziehung der Frauen untereinander zeigt, wie Literatur in der Lage ist, das gegenseitige Erkennen zu ermöglichen.

 

Der Titel Dream Count lehnt sich übrigens an den Ausdruck «Body Count» an: die Anzahl getöteter Gegner im Krieg. In der Umgangssprache wird «Body Count» auch benutzt, um die Anzahl Sexualpartner anzugeben. Im Roman bedeutet «Dream Count» wohl die Anzahl unverwirklichter oder aufgeschobener Träume.

 

Chimamanda Ngozi Adichie webt in diesem Roman einen Kosmos und packt grosse Themen unserer Zeit in alltägliche Dialoge, ohne je belehrend zu wirken. So erfährt man sehr viel über Macht, Geld, Rassismus, Politik, Mütter, Töchter und aufgeschobene Träume.

 

Originalton aus dem Buch

Eine Lektorin namens Katie schickte mir eine E-Mail und fragte, ob sie mich anrufen könne – ein richtiger Verlag in New York, der sich für mein Buchprojekt interessierte. Endlich. Bevor ich den Anruf annahm, wusch ich mir das Gesicht und steckte meine Braids zu einem Dutt zusammen, um anständig auszusehen, als könnte Katie mich sehen. Am Telefon sprach sie über meinen Titelvorschlag, sie sprach tatsächlich über den Titel, mit ernsthaftem Interesse. […]

Sie sagte, Die unabenteuerlichen Abenteuer einer alleinreisenden afrikanischen Frau sei wundervoll, aber vielleicht sei Schwarze Frau auf der Durchreise kraftvoller, weil «afrikanisch» einschränkend sei und «Schwarz» offener. Ich fand «Schwarz» zu offen; «Schwarz» erklärte nicht die Demütigungen meines nigerianischen Passes, die abgelehnten Visa, die Botschaften, die einer Nigerianerin misstrauten, die bloss die Welt entdecken wollte. Aber ich sagte: Ja, es sein eine wunderbare Idee, ich sei glücklich über den Vorschlag.

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