Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Worum geht’s?
Ein arabischer Handwerker renoviert den Balkon eines israelischen Paares in Tel Aviv. Naomi und ihr einjähriger Sohn Uri sind zu Hause. Dann fällt ein Hammer vom Balkon und erschlägt einen israelischen Teenager. Der arabische Handwerker wird als Terrorist verhaftet. Und Naomi, die die Wahrheit kennt, schweigt.
Der Sohn des Handwerkers, der ihn bei Naomi und Juval zum Essen abholen will, wird auf der Strasse vor dem Haus von einem wütenden Mob fast gelyncht, worauf Naomi und Juval ihn nach Hause in sein Dorf in den Bergen fahren. Dort werden sie von der Mutter zum Nachtessen genötigt und vom misstrauischen ältesten Bruder mit den Hunden bedroht.
Später entlastet Naomi den arabischen Handwerker, doch der Schaden ist angerichtet und zieht eine ganze Folge weiterer Ereignisse nach sich.
Nach dem Gerichtsurteil nimmt der ausgebildete Kampfjetpilot Juval ein gut bezahltes, aber moralisch nicht einwandfreies Angebot bei der israelischen Luftwaffe in Nigeria an. Naomi und Juval ziehen in eine Gemeinschaft von Expats. Dort trifft Juval auf seine Jugendliebe, die inzwischen als Psychologin in der israelischen Gemeinschaft arbeitet. Auch in Nigeria passieren psychologisch spannende Nebengeschichten, die sich oft um die Entscheidung drehen, wie viel man verschweigen soll, wie viel man überhaupt wissen will, oder wie viel man öffentlich sagen darf. Die grossen Themen des Romans sind Vorurteile, Schuld, Angst, Scham, Wut, Verantwortung und struktureller Rassismus.
Der Tod des Teenagers verändert drei Familien für immer: Naomi und Juval mit ihrem Sohn Uri, die Familie des Handwerkers und die Familie des getöteten Teenagers, dessen Vater auf Rache sinnt. Und wer sind denn jetzt die «ungebetenen Gäste»?
Was mir am Buch besonders gefällt
Die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen, deren letzten Roman Wo der Wolf lauert ich in diesem Blog auch bereits empfohlen habe, ist praktizierende Psychotherapeutin und kennt sich mit Konflikten und Schuldgefühlen besonders gut aus. Sie engagiert sich auch als Friedensaktivistin und beschreibt facettenreich und wie nebenbei die von Vorurteilen dominierte Beziehung zwischen Arabern und Juden in Israel. Mitfühlend schildert sie ihre Zweifel und Ängste.
Die Figuren sind vielschichtig ausgearbeitet, was sie unvorhersehbar und den Roman dadurch äusserst spannend macht. Die Sprache ist süffig, klar und reduziert und entfaltet trotzdem – oder gerade deswegen – grosse Emotionen. Durch die Verbindung von persönlichen Dramen und politischen Themen wird man regelrecht «reingesogen», der Roman ist ein echter Pageturner, ich konnte das Buch kaum weglegen. Unerwartete Wendungen sorgen für Spannungserhalt.
Ein relevanter, politisch und psychologisch vielschichtiger Roman!
Originalton aus dem Buch
«Wilde Bestien», sagte Juval, «ich weiss nicht, wie wir in dieser Gegend bleiben können nach dem, was eben auf der Strasse abgelaufen ist.» Naomi wusste nicht, ob er mit ihr, dem Jungen oder vielleicht mit sich selbst redete. «Begreifst du, dass sie ihn hätten umbringen können? Und wenn das passiert wäre, glaub mir, hätten sie hinterher nicht sagen können, das sei wegen dem anderen gewesen. Es war alles ihre Schuld.» Naomi aber wusste, dass es ihre eigene Schuld war. Sie wollte es ihm sagen. Aber als sie ihn wütend zwischen Wohnzimmer und Balkon tigern sah, blieben ihr die Worte im Halse stecken.