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Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde (S. Fischer, 2022)

Worum geht’s?

Die Filmemacherin Andrea und ihr Freund Tom möchten einen Film über den Autor Richard Wechsler drehen. Die Idee ist, ihn beim Schreiben seines nächsten Buches mit der Kamera zu begleiten und zu seinem Schreiben und seinen Büchern zu befragen. Doch nach und nach wird klar, dass dieser Film nicht zustande kommen wird. Zuerst scheitert es an der Finanzierung, der Autor hat das Buch schon fast fertiggeschrieben, bis sie endlich anfangen können, dann taucht der Autor nicht zum Interview auf.

 

Damit das Porträt vielleicht noch zustande kommt, gräbt Andrea in Wechslers Vergangenheit. So lernt sie Judith kennen, die verheiratete Pfarrerin, Mutter zweier Kinder, Richards grosse Liebe seit langer Zeit. Die beiden Frauen freunden sich an und schwelgen gemeinsam in ihren Erinnerungen an den inzwischen verstorbenen Autor.

 

Dies ist jetzt natürlich sehr rudimentär zusammengefasst, aber viel mehr passiert in Stamms Roman tatsächlich nicht. Es ist ein Buch darüber, wie eine Filmemacherin und ihr (Noch-)Freund Tom einen Film über einen Autor zu drehen versuchen. Interessanterweise existiert der Film dazu: Zu Ehren von Stamms 60. Geburtstag hat das Schweizer Fernsehen einen Film produziert über sein Schreiben und Denken. Darin sehen wir, wie die Filmemacherin Andrea und ihr (Noch-)Freund Tom Peter Stamm zu seinem Schreiben und Denken interviewen. Ist das echt? Oder alles nur gespielt? Tom erzählt vor der Kamera zum Beispiel, wie Peter Stamm ihn einmal nach seinen Schuhen gefragt hat, und wie die Schuhe dann auch Eingang ins Buch gefunden haben. Am Ende des Films fragt Tom Peter Stamm: «Welche Aspekte in deinem Roman würde es nicht geben, wenn wir, also Andrea und ich, nicht dabei gewesen wären?» Peter Stamms Antwort: «Ihr seid ja meine Figuren. Ich hab’ euch ja erfunden. Von daher seid ihr automatisch immer dabei.» Schweigen. Ende des Films. Im Abspann dann die Namen der Schauspielerin und des Schauspielers von Andrea und Tom. Ein wohl durchdachter Coup von Peter Stamm, sein Geburtstagsgeschenk an sich selbst.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Obwohl ich mich etwas schwertue mit der Kopflastigkeit des Romans, gefällt mir doch das schelmische Spiel, mit dem Peter Stamm das Genre des autofiktionalen Romans parodiert. Er führt auf mehreren Ebenen vor, wie er in seiner fiktionalen Geschichte «Gott» spielt. Und man lernt natürlich tatsächlich auch einiges über sein Denken und Schreiben, und zwar auf recht vergnügliche Weise. Es gibt viele Anspielungen an seine anderen Bücher, die man lustvoll erkennt, wenn man die Bücher gelesen hat, aber wenn nicht, macht es auch nichts. Aber als «lustiges» Buch, wie es in Rezensionen auch schon genannt wurde, würde ich es nicht bezeichnen.

 

Originalton aus dem Buch

Er hat etwas Blaues in sich, ich weiss nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Es ist glatt und glänzend und durchsichtig, mal scheint es fest wie Glas, mal wie ein Wassertropfen, der zerfliessen könnte, wenn man ihn berührt. Das Blaue ist nicht sehr gross. Wenn er nicht aufpasst, sieht man es manchmal in seinen Augen. Aber wenn er auf der Hut ist, sind seine Augen wie Spiegel, in denen er mich nichts als mich selbst sehen lässt. Aus dem Blauen kommen seine Geschichten, nicht alle, aber die besten. Dieses Blaue ist durch nichts zu trüben. Wenn ich es schaffen würde, das zu zeigen.

(Andrea über Richard Wechsler)

 

In einem meiner Gespräche mit Richard kamen wir darauf, was die wichtigsten Eigenschaften eines Menschen seien. Er erwähnte die Kardinaltugenden, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mässigung. Platon hat die Frömmigkeit durch Klugheit ersetzt, sagte er, keine schlechte, aber eine überraschende Wahl. Immerhin sei Klugheit fast das Gegenteil von Frömmigkeit. Aber für ihn sei ohnehin der Humor die wichtigste Eigenschaft, die Gelassenheit.

I don’t give a shit, sagte er, sei vielleicht überhaupt der wichtigste Satz für einen Künstler. Oder eine Künstlerin. Er lächelte, sehen Sie, ich lerne dazu. Es kümmert mich nicht. Was die Leute denken, was die Kritiker schreiben, was der Markt will, wie meine Verkaufszahlen aussehen. I don’t give a shit. Ich mache, was ich für richtig halte.

Man muss es sich leisten können, das zu sagen.

Man kann es sich nicht leisten, das nicht zu sagen.

 

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