· 

Helga Schubert: Der heutige Tag (dtv Verlagsgesellschaft, 2023)

Worum geht’s?

Die Protagonistin pflegt – wie die Autorin selber auch – ihren über zehn Jahre älteren Mann palliativ zu Hause, damit er nicht in ein Hospiz gehen muss. Abends, wenn er für die Nacht versorgt ist, setzt sie sich im Nebenzimmer vor den Computer und schreibt ihre Gedanken auf. Der Untertitel des Buches heisst «Ein Stundenbuch der Liebe», das trifft es sehr gut. Helga Schubert erzählt einerseits vom harten Pflegealltag, andererseits von vielen Momenten gemeinsamen Glücks und fügt Rückblenden bis in die ehemalige DDR ein. Derden, wie er im Roman heisst – für «der, den ich liebe» –, war einst ihr Professor, dann wurde er ihr Geliebter, beide waren damals mit jemand anderem verheiratet. Später stellte sie ihm ein Ultimatum, er entschied sich für sie. Seither sind sie sich innig verbunden, auch im Alter und der drohenden Demenz. Am schlimmsten sind für sie die Momente, in denen er sie nicht mehr erkennt.

 

Es gibt keine Spannungsbögen in den kurzen Kapiteln, trotzdem bleibt man gebannt dran. Zu lesen, wie eine 83-Jährige ihren noch einmal über zehn Jahre älteren Mann zu Hause pflegt, damit er zu Hause sterben kann, berührt . Das Paar lebt abgeschieden in Mecklenburg, ihr Lebensradius wird immer kleiner. Schubert erzählt ohne Larmoyanz, sachlich und zärtlich zugleich, aus allen Zeilen spürt man Liebe, aber auch ein Hadern mit der aktuellen Situation. Die harte Realität wird schonungslos erzählt, inklusive herausgerissene Blasenkatheter und umgekippte Rollstühle. Der Roman hat autobiographische Züge, hält aber eine reflektierte Distanz.

 

Ungewollt macht man sich Gedanken: Wie werde ich einmal enden? Werde ich meine Lieben nicht mehr erkennen und gewickelt werden müssen? Ist so ein Leben noch lebenswert? Dieses Buch ist ein guter Start, sich damit auseinanderzusetzen!

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Schubert erzählt in einer poetischen Sprache von vielen schönen Momenten im kräftezehrenden Fürsorgealltag. Das Buch berührt, ohne je in Sentimentalitäten zu verfallen. Schubert ist schlicht eine grossartige Erzählerin.

 

Originalton aus dem Buch

«Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.»

 

Litum – Literatur und Sprache

Kontakt

Im Moos 4

5210 Windisch

Schweiz

 

E-Mail