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Annika Büsing: Koller (Steidl, 2023)

Worum geht’s?

Zwei Menschen, die gerade fünf interessante Tage zusammen verbracht haben, sitzen am Meer. Geküsst haben sie sich nur ein einziges Mal. Wie sie dort ans Meer kamen, ungefähr vier Stunden von Leipzig weg, erzählt der Ich-Erzähler auf den folgenden 175 Seiten. Sie haben sich in einem Park kennengelernt: Koller, der eigentlich Kolja heisst, barfuss und mit pinken Fingernägeln, und Chris, der zu viel denkt. Beide sind um die dreissig und wissen gerade nicht so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.

 

Zwischen Kennenlernen und Sitzen am Meer liegt eine Spritztour, bei der die beiden mit einem geliehenen Auto eigentlich zum Haus von Kollers Grossmutter fahren wollen, zwischendurch aber verschiede Abstecher machen, zum Beispiel zu Kollers Schwester im Behindertenheim und zu seiner Tochter, von der er bisher gar nichts gewusst hatte.

 

Während dieser Reise nerven die beiden einander oft, sie tun einander aber auch gut. Chris’ Mutter war Wissenschaftlerin, emotional sehr zurückhaltend, wenn nicht völlig hilflos. Chris kann sich seinen Mitmenschen gegenüber schlecht öffnen. Koller hingegen lebt intuitiv und teilt seine Emotionen ungefiltert mit. Die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein, und passen trotzdem gut zusammen.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Zuerst einmal fand ich den ersten Satz genial: «Das Meer riecht genau richtig nach Meer.»

 

Die Charaktere, Koller und Chris, sind fein ausgearbeitet, haben ihre eigene Sprache. Annika Büsing gelingt es sehr gut, das komplizierte Innenleben ihrer Charaktere glaubhaft zu beschreiben. Ich kann mit Chris mitfühlen, der immer zu viel denkt und sich vom impulsiven Koller mitreissen lassen möchte. Dass es um eine homosexuelle Beziehung geht, habe ich erst auf Seite 16 erfahren, am Anfang dachte ich noch, Chris sei eine Frau.

 

Dann mag ich die Sprache des Buches: Die Dialoge knapp und kraftvoll, die Beschreibungen sorgfältig und tiefgründig. Die Beziehungen werden differenziert geschildert, Ella ist nicht nur Kollers Ex sondern immer noch eine sehr gute Freundin. Der Roadtrip erinnert ein bisschen an Herrndorfs «Tschick», einfach erwachsener und diverser.

 

Originalton aus dem Buch

Als wir den Kindergarten erreichten, standen da eine Menge Mütter vor der Tür. Ich begriff, warum vom Papa gebracht werden ein Highlight darstellte. Wir stiegen aus.

 

Nun ist es ja so: In einem Kaff wie Hannahhausen mag der Umstand, dass eine ledige Dame ein Kind bekommen hat, kein Geheimnis bleiben. Den Vater hat noch nie jemand gesehen, angeblich soll er in Leipzig wohnen. Und dann steht da morgens zur Rushhour ein Typ an der Kita-Tür und bringt das Kind der ledigen Dame in die Betreuung.

 

Das ist besser als Fernsehen!

 

Ich ignorierte die Blicke und bugsierte Hannah zur Tür, wo eine Erzieherin die Kinder in Empfang nahm. Rein durfte man nicht. Corona.

 

«Guten Morgen, Hannah», sagte die Erzieherin. «Wen hast du denn da heute mitgebracht?»

 

«Das ist Chris», sagte Hannah. «Er ist mein Leihpapa.»

 

«Oh, das ist ja schön! Einen Leihpapa hast du? Ist das der Freund von der Mama?»

 

«Nein», sagte Hannah, «der Freund von Papa.»

 

Ich liebte sie. Hannah, du bist eine Granate. Und ich liebe dich.

 

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