Worum geht’s?
Auf 330 Seiten wird uns ein Familienroman über drei Generationen erzählt. Er beginnt Ende des 19. Jahrhunderts im südlichen Ungarn mit Baron Sándor von Lázár, Mária von Lázár und ihren Kindern Ilona und Lajos, und endet mit dem Ungarnaufstand und der Flucht von Lajos’ Kindern in den 1950er Jahren nach Zürich. Dazwischen liegen zwei Weltkriege und der Zerfall des Habsburgerreichs.
Was mir am Buch besonders gefällt
Nelio Biedermann will Geschichten erzählen, und das tut er mit viel Lust und Fabulierkunst. Der erste Satz des Buches lautet: "Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den es bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird." Das erinnert mich an Gabriel García Márquez. Der erste Satz von Hundert Jahre Einsamkeit ist ebenfalls eine Prolepse – eine Vorausdeutung, ein Ereignis in der Zukunft, das in der Erzählung vorweggenommen wird –, in der der Vater des Protagonisten vorkommt, und das «durchsichtige Kind» erinnert an Márquez’ magischen Realismus. Im Lauf der Lektüre tauchten dann implizit und explizit noch andere Autoren des Kanons auf: Salman Rushdie, Thomas Mann, Joseph Roth, Zuckmayer, Virginia Woolf, Proust, E.T.A. Hoffmann, Arthur Schnitzler und weitere, die im Roman von den Figuren teilweise gelesen werden oder sogar persönlich auftreten.
Dem Autor wird in verschiedenen Rezensionen vorgeworfen, er stelle seine Belesenheit zu stark zur Schau. Aber ich finde, mit seinen zweiundzwanzig Jahren sei ihm das verziehen, denn es kommt durchaus lustvoll und ungezwungen daher. Und die paar Metaphern, die etwas schräg in der Landschaft stehen, stören den Lesefluss kaum, weil sie im Meer der dutzenden von poetischen Metaphern schlicht untergehen. Mir gefällt es, dass hier jemand furchtlos mit grosser Lust erzählt, fabuliert, zusammenstellt, zusammenschreibt, eine gute Geschichte erzählt und seine Familiengeschichte zum Anlass nimmt, Fakten grosszügig mit Fiktion auszuschmücken. Da lasse ich dem Autor auch durchgehen, dass seine Figuren manchmal etwas blass bleiben. Vor allem im letzten Drittel konnte er mich nicht mehr so packen. Vielleicht, weil er im Lauf der Erzählung seinen Stil den Ereignissen angepasst hat – so jedenfalls habe ich das wahrgenommen. Am Anfang, im Waldschloss, trieft der Stil vor Adjektiven und Metaphern, gegen Schluss, in der Nazizeit wird er nüchterner und spröder. Das ist ein cleverer Versuch und gefällt mir als Idee, nur fällt damit das Buch ein bisschen auseinander. Die poetischen, wenn auch manchmal etwas dick aufgetragenen Wendungen in der ersten Hälfte des Buches und die verschachtelten Sätze, die sich wundersamerweise doch sehr flüssig lesen, haben mich durchaus beeindruckt. Der Roman lebt von der Erzähllust und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Dass dabei die historischen Ereignisse etwas stark zur Kulisse verkommen, sehe ich ihm gern nach. Ich bin gespannt, in welchem Stil sein nächster Roman daherkommen wird.
Originalton aus dem Buch
An einem der seltenen regenlosen Nachmittage des Spätsommers 1948 verknüpfte sich das Knirschen von Kies mit einem Verlustgefühl, das sich so tief in Pista verankerte, dass er es bis an sein Lebensende nicht mehr loswurde. Jahre später, als er bereits in Zürich lebte, gab er seine erste eigene Wohnung auf, weil sein Schlafzimmerfenster über einem Park lag, dessen Kiesfläche, auf der die alten italienischen Herren, die fünfzig Jahre zuvor für den Bau des Simplontunnels und anderer Grossprojekte in die Schweiz gekommen waren, Boccia spielten, jeden Morgen geharkt wurde und ihn das Knirschen so schwermütig machte, dass er es kaum aus dem Bett schaffte.